1 Team, 11 Länder, 36 Tage: Wie das virtuelle Expresslabor zum Erfolg wurde

Typ: Meldung , Schwerpunktthema: Digitalisierungslabor , Datum: 29.10.2020

Zu Beginn der Corona-Zeit wurden existenzsichernde OZG-Leistungen priorisiert und beschleunigt digitalisiert. In nur knapp einem Monat wurde das IfSG-Onlineverfahren entwickelt – wie ist das gelungen? Projektverantwortliche von Bund und Ländern sowie ein Sachbearbeiter erzählen von ihren Erfahrungen.

Zu Beginn der Corona-Zeit wurde in der OZG-Umsetzung schnell auf die neue Krisensituation reagiert. Das hat ein interdisziplinäres Projektteam eindrucksvoll bewiesen und ein ganzes Verfahren im Expressdurchlauf digitalisiert: den Antrag auf Lohnfortzahlung bei Quarantäne und Betreuungserfordernis von Kindern aufgrund geschlossener Einrichtungen. Umgesetzt wurde das Ganze im April 2020, in nur knapp einem Monat und komplett virtuell. Seit Mitte Mai können Bürgerinnen und Bürger die Leistung bereits in elf Bundesländern bequem von zuhause aus beantragen. Die Bearbeitungszeit verkürzt sich um die Hälfte, das Geld kommt schneller an. Wie ist man bei diesem Leuchtturmprojekt vorgegangen?

IfSG-Online IfSG-Online (Vergrößerung öffnet sich im neuen Fenster) Quelle: stokpic / Pixabay So sieht der IfSG-Antrag aus.

Die gesetzliche Grundlage für den Anspruch auf Lohnfortzahlung bei quarantänebedingter Arbeitsunfähigkeit gibt es bereits seit 1960, jedoch wurde er bislang kaum geltend gemacht. 2019 gab es zum Beispiel in ganz Deutschland weniger als 200 Anträge, zuständige Behörden stellten deshalb häufig nicht mal ein Antragsformular zur Verfügung. Doch im Zuge der Corona-Pandemie stieg die Nachfrage 2020 rasch an, Ende März verabschiedete der Bundestag dazu noch ein neues Gesetz, wonach nicht nur Personen in Quarantäne anspruchsberechtigt sind, sondern auch von Kita- oder Schulschließungen betroffene Eltern. Um der Vielzahl an Anträgen Herr zu werden und eine einfache, kontaktlose Beantragung zu ermöglichen, hat im April ein interdisziplinäres Team aus Expertinnen und Experten, Entwicklerinnen und Entwicklern sowie einem Projektleiter in drei Schritten ein Onlineverfahren im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) entwickelt, das nach nur 36 Tagen einsatzfähig war:

Schritt 1: Konzeption im Projektteam

Das Projektteam hat eng mit Fachleuten aus den elf teilnehmenden Bundesländern zusammengearbeitet und die Anträge konzipiert. Die Entwicklung ging schnell voran, Datenfelder und Prozesse wurden pragmatisch mit Excel und Word dokumentiert und statt eines neuen Klickprototyps wurden Design und Nutzererfahrung aus bestehenden IT-Verfahren genutzt; so konnte viel Zeit in der Entwicklung gewonnen werden. Ziel war es - genauso wie in allen anderen OZG-Digitalisierungsprozessen - das Antragsverfahren aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer möglichst einfach und verständlich zu gestalten.

Schritt 2: Entwicklung einer Alphaversion

Zunächst entwickelte das Team eine Alphaversion des Antrags mit allen grundlegenden Funktionen. Fragen wurden direkt im Austausch mit den Behörden geklärt. Schon nach drei Wochen stand eine „klickbare“ Version zum Testen bereit, die Version für die Sachbearbeitung (Fachverfahren) war nach fünf Wochen verfügbar.

Schritt 3: Tests mit Nutzergruppen

Natürlich durften beim Testen die Nutzerinnen und Nutzer nicht fehlen. Zwei unterschiedliche Zielgruppen haben die Alphaversion getestet: Unternehmen und Selbstständige die Onlineanträge, die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Behörden das Fachverfahren. Das Projektteam hat das Feedback konsolidiert, priorisiert und in agiler Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsteam umgesetzt.

Bild Expresslabor Bild Expresslabor (Vergrößerung öffnet sich im neuen Fenster) Quelle: BMI Express-Labor zum Infektionsschutzgesetz: In 36 Tagen zum Online-Verfahren

Erfahrungsberichte: Labor und Anwendung

Max Osterheld, Referent im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, und David Wilkskamp, Referent Digitale Verwaltung im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen waren an der Projektarbeit im Express-Digitalisierungslabor beteiligt. Hier erzählen sie von ihren Erfahrungen. Ebenfalls zu Wort kommt Bernd Mitzkas, Administrator der Fachanwendung aus Hessen, hat unter anderem die Einarbeitung der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter im Umgang mit dem neuen Verfahren in Hessen betreut.

Max Osterheld über den Prozess unter Zeitdruck:

Was unterscheidet die Expressdigitalisierung von der bekannten Labormethode, die im OZG-Programm verwendet wird?

Wie der Name schon sagt, ist die Expressdigitalisierung deutlich schneller als die bekannte Labormethode – sechs Wochen statt fünf bis sechs Monate. Am neuen Onlineverfahren waren elf Länder beteiligt, um den Onlineantrag Mitte Mai verfügbar zu machen.

Einerseits haben wir bei der Expressmethode IT-Elemente aus dem Labor verwendet, sodass wir einiges an Zeit sparen konnten. Andererseits gab es bei vielen Behörden früher keinen umfangreichen Antragsprozess, da die Nachfrage vor der Corona-Pandemie eher gering war. Die Standardisierung und rechtliche Klärung klappten rasch und unkompliziert.

Kann jetzt jede OZG-Leistung innerhalb von sechs Wochen digitalisiert werden?

Die Idee zur Expressdigitalisierung ist in der Corona-Krisensituation entstanden. Alle teilnehmenden Länder waren an einer schnellen und sicheren Lösung interessiert und Entscheidungen wurden schnell gefällt. Wir haben durch diesen Prozess viel gelernt, was uns auch bei zukünftigen Digitalisierungsprojekten zugutekommen wird. Eine Expressdigitalisierung ist allerdings nicht für jede Leistung gleich sinnvoll.

Beispielsweise setzen wir bei der Labormethode von Anfang an stark auf die Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer. Das ist ideal, um besonders nutzerfreundliche Lösungen zu erarbeiten und ganz neue Ideen zu entwickeln. Die Einbindung erfordert natürlich mehr Zeit und mehr Iteration. Bei der Expressdigitalisierung haben wir die Nutzerinnen und Nutzer zum Testen in eine Entwicklungsumgebung eingebunden, in der mögliche Lösungen bereits vorgegeben waren.

Ein weiterer Aspekt ist die gemeinsame Entwicklung des Onlineverfahrens über Ländergrenzen hinweg. Das ist ein abstimmungsintensiver Prozess, der auch genau deshalb so erfolgreich ist – wenn wir als Team miteinander diskutieren und uns austauschen, lernen wir voneinander und erarbeiten bessere Lösungen für alle.

Was hat Ihnen in diesem Prozess besonders viel Spaß gemacht?

Das Team war und ist wahnsinnig motiviert. Wir alle wussten, dass es nicht leicht wird, in so kurzer Zeit ein neues Onlineverfahren zu entwickeln. Jetzt zu sehen, dass es geklappt hat, gut funktioniert und auch angenommen wird, ist großartig!

Die Beantragung und das Fachverfahren wurden nicht nur in sehr kurzer Zeit entwickelt, sondern auch komplett unter Corona-Bedingungen. Das Projektteam hat ausschließlich virtuell zusammengearbeitet, die Beteiligten haben sich kein einziges Mal persönlich getroffen.

David Wilkskamp über die erschwerten Bedingungen des Labors aufgrund der ausschließlich virtuellen Zusammenarbeit:

Wie funktionierte die virtuelle Zusammenarbeit des Teams?

Nach kurzer Eingewöhnung hat die virtuelle Zusammenarbeit sehr gut funktioniert.

Wir haben uns in der „heißen Phase“ des Projekts regelmäßig abgestimmt und auch immer wieder spontan miteinander gesprochen und Entscheidungen getroffen. Dabei haben wir uns durch Videokonferenzen sogar häufiger gesehen, als es in einem „analogen Projekt“ möglich wäre – das sollten wir in andere Projekte übertragen.

Durch Transparenz und gute Dokumentation auf einer gemeinsamen Plattform war für alle immer klar ersichtlich, wer woran arbeitet und was der aktuellste Stand ist. So konnten wir uns gegenseitig optimal unterstützen.

Was waren und sind für Sie die Erfolgsfaktoren, die die Arbeit im Team auch virtuell erfolgreich gemacht haben und weiterhin machen?

Wir haben uns von Anfang an am Endprodukt orientiert. Das heißt, sämtliche Überlegungen und Anforderungen wurden direkt mit dem Entwicklerteam gespiegelt, sodass die Kolleginnen und Kollegen alles unmittelbar technisch umsetzen konnten: „digital first“ wurde so als Motto mit Leben gefüllt.

Unser Team bestand aus Expertinnen und Experten, Nutzerinnen und Nutzern sowie Entwicklerinnen und Entwicklern. Gemeinsam haben wir neue Ideen entwickelt und Herausforderungen pragmatisch gelöst. Natürlich bedeutet das aber auch, manche Idee wieder zu verwerfen.

Durch regelmäßige Telefon- und Videokonferenzen waren wir immer gut informiert und konnten Zusammenhänge zwischen den einzelnen Themen erkennen und rasch handeln.

Wie stellen Sie sich ein persönliches Treffen im Projektteam vor?

Ich freue mich auf ein persönliches Treffen! Wir haben es als Team geschafft, trotz der Distanz Nähe aufzubauen. Gerne würde ich mich jetzt bei den Kolleginnen und Kollegen persönlich für die teilweise langen Abstimmungen und auch tollen Erfolge bedanken.

Das Verfahren ist so nutzerfreundlich, dass die Entschädigung in nur 15 bis 20 Minuten online beantragt werden kann. Viele Angaben werden bereits während der Antragstellung überprüft, was Nachfragen bei der Bearbeitung auf ein Minimum reduziert. Alle Nachweise können online hochgeladen werden, Ausdrucke und physische Unterschrift sind nicht nötig.

Bernd Mitzkatis über die Sachbearbeitung des Onlineantrags:

Wie waren Sie in den Entwicklungsprozess involviert?

Ich bin erst eingebunden worden, als das Konzept bereits stand. Aus Hessen gab es Vertreterinnen und Vertreter aus dem Sozialministerium, die von Anfang an involviert waren. Ich bin dann zum Testen hinzugekommen und konnte hier aus der Sicht eines Praktikers Feedback zur weiteren Optimierung geben.

Außerdem habe ich mich intensiv um die Einarbeitung der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter gekümmert. Der Prozess ist für uns alle natürlich noch ganz neu. Wir haben zwar Schulungsmaterialien bekommen, aber das persönliche Training ersetzen sie doch nicht ganz. Es ist gut, jemanden zu haben, der auch mal spontan Fragen beantworten kann.

Wie wird das Onlineverfahren in der Realität angenommen und wie funktioniert die Anwendung des Fachverfahrens aus Ihrer Sicht?

Der Onlineantrag wird fleißig genutzt – weswegen es leider auch immer wieder zu Stau auf dem Server kommt. Mit dem Feedback, das wir einbringen können, bin ich zuversichtlich, dass die zentralen IT-Profis sowohl technische als auch fachliche Optimierungen laufend einarbeiten.

Die Bearbeitung funktioniert mit dem neuen System einfach und schnell; das spart wertvolle Zeit. Personen, die nicht das Onlineverfahren wählen, sondern einen Papierantrag schicken, müssen natürlich weiterhin mit einer längeren Bearbeitungszeit rechnen, da der Antrag erst manuell erfasst werden muss. Wir hoffen, dass durch eine bessere IT-Leistung und klarere Kommunikation immer mehr Menschen auf den Onlineantrag zurückgreifen.

Mit dieser Erfahrung, was wünschen Sie sich für die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen?

Ich freue mich darauf, auch in Zukunft an Digitalisierungsprojekten mitwirken zu können. Die Erfahrung von Fachleuten aus der Praxis ist sowohl in der Konzeptions- als auch in der Weiterentwicklungsphase ganz besonders wichtig. Spannend ist natürlich auch der Austausch mit den anderen Ländern – hier muss man Kompromisse eingehen, um gemeinsam eine Lösung zu finden.

In den ersten zwei Montagen sind ca. 20.000 Anträge online eingegangen und bearbeitet worden. Da der Anspruch rückwirkend gilt und Anträge bis zu zwölf Monate später eingereicht werden können, werden noch viele dazukommen. Auf die rasche Digitalisierung und praktische Umsetzung der Anträge und Fachverfahren folgt jetzt eine Phase der Optimierung. Die Länder priorisieren hierzu regelmäßig neue oder sich ändernde Anforderungen und auch Gesetzesänderungen müssen berücksichtigt werden.

Die COVID-19-Pandemie erfordert in vielerlei Hinsicht ein Umdenken. Die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Bund, elf Ländern und einem engagierten Projektteam zur Entwicklung eines Onlineverfahrens in nur 36 Tagen ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie digitale Transformation in Krisenzeiten gelingen kann.